Aktuelles

Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises an György Konrád

am 17. Juni 2007
in der Paulskirche zu Frankfurt am Main
Rede der Stiftungsvorsitzenden Erika Steinbach MdB
Laudatio des Europaabgeordneten Milan Horáček
Dankesrede des Preisträgers György Konrád

Rede der Stiftungsvorsitzenden
Erika Steinbach MdB


Zum dritten Male verleiht die Stiftung ZENRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) ihren Franz-Werfel-Menschenrechtspreis in der Frankfurter Paulskirche.

Auch in der neuen schwarz/grünen Magistratskonstellation dürfen wir Gast in diesem würdigen Hause sein. Und das gleich in doppelter Weise. Nicht nur für unsere Preisverleihung am heutigen Vormittag sondern für vier ganze Wochen, um unsere Ausstellung „Erzwungene Wege“ der Öffentlichkeit in Frankfurt zugänglich zu machen. Herzlichen Dank dafür.

Ich danke dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, dass er auch für die diesjährige Preisverleihung wiederum die Schirmherrschaft übernommen hat. Aber nicht nur das: Zu Pfingsten, dem „lieblichen Fest“ wie es so schön einleitend in Goethes Reinecke Fuchs heißt, hat Ministerpräsident Koch verkündet, dass Hessen Pate unserer Stiftung wird und der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber schloss sich ihm für sein Bundesland an.

Damit hat die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN nicht nur mehr als 400 Städte und Gemeinden als Paten, auch Frankfurt a. M. gehört dazu, sondern erstmals auch zwei Bundesländer.

Am heutigen Vormittag begrüße ich sehr herzlich unsere Ehrengäste: Den Frankfurter Kulturdezernenten Prof. Dr. Felix Semmelroth, Herrn Landtagspräsidenten Norbert Kartmann, der mit etwas Verspätung eintreffen wird, die Vertreter des Hessischen Landtages und der Landesregierung sowie die Mitglieder der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats, die Mitglieder der Jury zur Verleihung unseres Preises, die Vertreter des Bundes der Vertriebenen, die Vertreter des Diplomatischen Corps und hierbei aus gegebenem Anlass den Generalkonsul der Republik Ungarn, Herrn Gyula Bélai sowie natürlich alle hier Anwesenden.

Ein besonderer Gruß gilt unserem diesjährigen Preisträger, Ihnen lieber, verehrter Prof. Konrád und unserem Laudator, Ihnen, lieber Herr Milan Horáček.

Mehr als 30 Völker Europas haben im 20. Jahrhundert in Europa und seinen Grenzgebieten als Ganzes oder in Teilen ihre Heimat verloren. Die Idee ethnisch homogener Nationalstaaten ist eine der Hauptursachen für Vertreibungen ethnischer Gruppen oder Minderheiten im 20. Jahrhundert.

Nicht wenige Nationen stellten im Kontext der Vertreibungen sowohl Opfer als auch Täter, zeitlich versetzt oder sogar gleichzeitig.

Unsere Stiftung, gegründet von deutschen Heimatvertriebenen, will die Vertreibungsopfer des 20. Jahrhunderts der Vergessenheit entreißen. Wir wollen ihnen Fürsprecher sein und wir wollen couragierte Männer und Frauen auszeichnen, die Fürsprecher für die Schwächsten in den Verwerfungen der Geschichte waren.

Mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis können Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die sich insbesondere gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung oder bewusste Zerstörung nationaler, ethnischer oder religiöser Gruppen gewandt haben.

Grundlage für die Beurteilung sind:

    das IV. Haager Abkommen von 1907,
    die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948,
    der Internationale Pakt von 1966,
    die Kopenhagener Kriterien des Europäischen Rates von1993 und
    die Entschließung der Menschenrechtskommission der Vereinten

Nationen von 1998.

Wer in diesem Sinne beispielgebend politisch, künstlerisch, philosophisch oder durch praktische Leistungen gewirkt hat, kann mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet werden.

Vor zwei Jahren war Bischof Dr. Franjo Komarica aus Bosnien-Herzegowina unser Preisträger.
Heute haben wir mit György Konrád einen ungarischen Preisträger. Darauf haben wir uns natürlich selbst mit unserer musikalischen Umrahmung eingerichtet. Mit György Ligeti haben wir nicht nur einen ungarischen Komponisten, sondern sogar einen Namensvetter "György" aufgeboten.

Zudem ist unsere Wanderausstellung, die am Ende der Preisverleihung durch den Herrn Landtagspräsidenten eröffnet wird, im Verhältnis zu unserer Berliner Fassung im ungarischen Teil um wesentliche Aspekte erweitert worden.

Die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN hat seit ihrer Gründung im Jahr 2000 die Diskussion und die öffentliche Wahrnehmung nachhaltig belebt. Sie hat dazu beigetragen, festgefügte Feindbilder abzubauen und Menschen für das Thema Vertreibung, eines der deutschen Schicksalsthemen, zu interessieren und sich auch dafür zu engagieren.
Ohne unsere Stiftung hätte die Bundesregierung wohl nicht die Koalitionsvereinbarung getroffen, in Berlin ein „sichtbares Zeichen“ zu Flucht und Vertreibung zu errichten.

Es ist gut, wenn der Staat erkennt, dass die Umsetzung einer sochen Gedenk- und Dokumentationsstätte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und damit des staatlichen Engagements bedarf.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Vertreter der Opfer sich dabei mit einbringen und das ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN und der Bund der Vertriebenen an den Planungen maßgeblich beteiligt werden.

Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte anlässlich unserer Ausstellungseröffnung im Berliner Kronprinzenpalais:
"Es wäre unsinnig, eine solche Kultur der Erinnerung ohne die Betroffenen entwickeln und pflegen zu wollen".
Joachim Gauck hat im vorigen Jahr in seiner bemerkenswerten Rede am selben Ort, bezogen auf die deutschen Vertriebenen, deutlich gemacht: "Es ist nicht normal oder sagen wir es genauer: Es ist weder den Psychen der Beteiligten angemessen noch der Vernunft förderlich, wenn derartige Verluste, wenn Traumata dieser Größenordnung nicht im kollektiven Gedächtnis der Nation aufbewahrt werden".

Das Bewusstsein, dass die Vertreibung in dieses kollektive Gedächtnis unserer Nation gehört ohne, dass deshalb das Leid anderer Opfer marginalisiert würde, dieses Bewusstsein ist durch unsere Stiftung geschärft worden.

Ihr engagierter Vortrag, lieber Herr Professor Konrad, an der Viadrina Universität in Frankfurt an der Oder am 13. November 1998, in dem Sie leidenschaftlich Vertreibungen verdammten und ihr Mitgefühl für die Opfer deutlich machten hat mich damals tief beeindruckt – genauso wie meine erste persönliche Begegnung mit Ihnen vor vielen Jahren in der Akademie der Künste in Berlin.

Mit der heutigen Preisverleihung ehren wir einen Mann, der maßgeblich zu einer offenen Vertreibungsdebatte beigetragen hat.

Laudatio
Milan Horáček MEP


(Anrede),

es freut mich sehr, heute an dieser Stelle einen wunderbaren Menschen für sein Leben und seine Arbeit für Demokratie und Menschenrechte würdigen zu dürfen. Die Frankfurter Paulskirche ist für Dich kein unbekannter Ort. Bereits 1991 waren wir hier versammelt, als Dir der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht wurde.

Die Paulskirche ist ein wichtiges Symbol für die Freiheit und gilt als "Wiege der deutschen Demokratie". Sie ist der Geburtsort der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands. Der Geist von Frankfurt geriet trotz der grausamsten Phasen der deutschen Geschichte glücklicherweise nie ganz in Vergessenheit. Besonders die damals formulierten Grundrechte fanden Eingang in die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz von 1949. Kaum ein anderer Ort ist besser geeignet für die Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises, der besonderes Engagement für die Würde und Rechte der Opfer von Verfolgung, Vertreibung, Deportation oder Völkermord auszeichnet. Ich danke daher der Stadt Frankfurt sehr, in der ich lange als Bürger gelebt habe und als Stadtverordneter tätig war, dass sie die Preisverleihung in der Paulskirche möglich gemacht hat.

Das Zentrum gegen Vertreibungen hat in den vergangenen Jahren an dieser Stelle Vorreiter für die Aufarbeitung und Aussöhnung mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis geehrt:
- Prof. Dr. Mihran Dabag für seinen Beitrag zur Genozidforschung und der Armenierverfolgung,
- Vìra Vitová, Petr Kulíšek und Jan Piòos, die sich gemeinsam für das "Kreuz der Versöhnung" in Teplice nad Metuji / Wekelsdorf engagiert und damit ein wichtiges Zeichen des Dialogs zwischen Deutschen und Tschechen gesetzt haben,
- und Bischof Dr. Franjo Komarica, der in Banja Luka die Vertreibung fast aller katholischer Kroaten miterleben musste und dennoch für einen Ausgleich zwischen den Volksgruppen eintrat.
In diesem Jahr wird das lebenslange Wirken von György Konrád gewürdigt.

In seinen literarischen Werken hat sich György Konrád immer wieder mit dem Thema Vertreibung auseinandergesetzt. Er hat sich dabei mit dem Schicksal seiner eigenen Familie befasst, er hat sich vor allem aber immer wieder für alle Opfer stark gemacht. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Erzwungene Wege - Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts" sagte er im vergangenen Jahr in Berlin: "Die gewaltsame Trennung des Menschen von seinem Wohnort ist halber Mord. Unser Recht auf den Ort, an dem wir geboren worden sind, wo wir leben, ist ein fundamentales und unantastbares. Die Deportation von Menschen oder die mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ihrem Wohnort ist ein international zu verfolgendes Verbrechen."

Sich gegen Vertreibungen einzusetzen, ist ein mühsamer Kampf, denn Vertriebene haben, wie man Neudeutsch sagen könnte, keine große Lobby. Es ist jedoch ein unverzichtbarer Kampf für ein elementares Menschenrecht, das Recht eines Jeden - noch einmal Konrád - "auf jenes Territorium, jene Gegend, jene Siedlung, wo er lebt, wo er gelebt hat, wo seine Vorfahren gelebt haben."

Demokratische Gesellschaften suchen keine inneren Feinde, keine Sündenböcke, sie gestalten das Zusammenleben verschiedener Ethnien friedlich und lösen Konflikte gemeinsam. Vertreibungen sind eine Kapitulation vor den eigenen Problemen, sie sind Folge des totalitären Anspruchs einer Mehrheit - oder auch einer Minderheit - zu entscheiden, wer erwünscht ist und wer nicht. Der entstehende Schaden trifft nicht nur die Vertriebenen, sondern auch die eigenen Bürger. Selbst Jahrzehnte später fällt es manchen Nationen schwer, ihre Schuld einzugestehen, sie sind verkrampft. In der Türkei steht die öffentliche Anerkennung der Armenierverfolgung, die Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" auf eindringliche Weise beschrieben hat, noch heute als Beleidigung des Türkentums unter Strafe. Auch die Ängste und Komplexe in Polen sind eine Folge des Umganges mit der eigenen Geschichte. Die Aufarbeitung und Anerkennung von Verantwortung sind ein wichtiger Befreiungsschlag und Grundlage für eine mögliche Versöhnung.

György Konrád hat das erkannt und einen sehr wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Ungarn in diesem Bereich deutlich weiter ist als manch andere Staaten. Die Nationalversammlung hat sich bereits 1990 bei den vertriebenen Deutschen entschuldigt und Entschädigungen beschlossen. Auch wenn ökonomische Wiedergutmachungen nicht überall realistisch sind und Unrecht nicht ungeschehen gemacht werden kann, ist es eine moralische Pflicht, dieses anzuerkennen und den Opfern die Hand zu reichen. Wie die ungarische Parlamentspräsidentin, Frau Dr. Katalin Szili, die die Vertreibungsdekrete als "Dokumente der Schande" bezeichnete, weil es keine Kollektivschuld gebe, und Lázló Sólyom, der anlässlich der Eröffnung des Denkmals für die vertriebenen Ungarndeutschen in Budaörs erklärte: "Als Staatspräsident entschuldige ich mich bei den vertriebenen Schwaben und ihren Familien für das widerfahrene Unrecht."

Das 20. Jahrhundert war von grauenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichnet. Das europäische Judentum wurde durch den Nationalsozialismus fast vollständig vernichtet. Es gab Kolonialismus, Faschismus und Kommunismus, die zu totalitärer Barberei in vielen Teilen der Erde führten. Die beiden Weltkriege und regionale Konflikte forderten Millionen Todesopfer und lösten Vertreibungen und Genozide aus: denken wir an die Albaner, Armenier, Bosniaken, Deutschen, Palästinenser, Sinti und Roma sowie unzählige weitere, die ermordet oder entwurzelt wurden - eine vollständige Aufzählung wäre viel zu lang. Die Tragödien in Afrika, die Lage in Darfur - zeigen, dass auch im neuen Jahrtausend so genannte "ethnische Säuberungen" leider noch nicht der Vergangenheit angehören. Ein beschönigender Begriff, den György Konrád abscheulich findet und den er so hinterfragt: "Ethnische Säuberung? Schmutz wäre, wer vertrieben, wer verschleppt wird? Wünschenswert wäre, ihn verschwinden zu lassen? [...] Warum nicht Deportation? Oder sollte etwa der Abtransport meiner Verwandten und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Weil die ethnische "Sauberkeit" ein Wert wäre? [...]"

Das Leben von György wurde geprägt von zwei Diktaturen, dem dennoch nie verlorenen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit und der lang ersehnten europäischen Integration seiner Heimat.

Geboren im April 1933 im ostungarischen Berettyóújfalu nahe Debrecen, bekommt er die Auswirkungen der Machtergreifung Hitlers in Deutschland - er selbst hat sein Geburtsjahr oft mit diesem Ereignis in Zusammenhang gebracht - bereits früh in seiner Kindheit zu spüren. Als Sohn einer jüdischen, bürgerlichen Familie muss er mit ansehen, wie im Dorf jüdische Mitbürger von den Pfeilkreuzlern, den ungarischen Faschisten, erniedrigt und getötet werden. Mit der deutschen Besetzung ab März 1944 verschlimmert sich die Lage erheblich, auch in Ungarn beginnen die Massendeportationen. Die meisten nach Auschwitz. Hunderttausende sind betroffen, nur wenige kehren zurück. György muss nach Budapest fliehen, es ist seine erste Vertreibung. Nach der Befreiung kehrt er in seinen Heimatort zurück, wo es fast keine Juden mehr gibt.

Kaum dem Tod entkommen, wird der Familie ihre soziale, ihre bürgerliche Herkunft zum Verhängnis. Der stalinistisch geführte Staat beschlagnahmt Ende der 40er Jahre den gesamten Besitz, György wird erneut aus seinem Elternhaus vertrieben. So wird er schnell zum Opfer Jaltas, jenes Abkommens der Großmächte, mit dem nicht nur das Schicksal Deutschlands besiegelt, sondern auch die Spaltung unseres Kontinents eingeleitet wird. Zurecht hast Du, lieber György, darin immer den großen Stolperstein für den Frieden in Europa gesehen.

1956 kommt es zu einer Zäsur: der Ungarische Volksaufstand wird gewaltsam niedergeschlagen - und mit ihm die Hoffnungen auf demokratische Reformen. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet, möchte Konrád helfen, die Universität gegen die Sowjetarmee zu verteidigen. Er schießt letztlich aber doch nicht - seine wirkungsvollste Waffe wird das Wort. Die Nachwirkungen der Erhebung werden Konrád in den Folgejahren besonders deutlich, wie er 50 Jahre später rückblickend in einem Interview sagte: "Es war eine brutale Niederlage mit Vergeltungen. Wenn ich bei meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter zu Familien kam und fragte, wo ist der Vater, dann wurde oft gesagt: Der wurde hingerichtet - oder er ist weggegangen. Es war ein großer Schlag, fast ein Gehirnschlag."

Sein Romandebüt macht György Konrád 1969, in Ungarn und kurze Zeit später auch im Ausland bekannt. "Der Besucher" greift seine Erfahrungen als Sozialarbeiter auf und zeichnet ein wenig idyllisches Bild vom Sozialismus mit Verlierern, Verwahrlosten, Ausgestoßenen und seelisch Kranken. Es ist der Auftakt zu einer Reihe von kritischen Werken, die die Führung in Erklärungsnöte bringen. In der Nähe von Budapest richtet Konrád in einem leer stehenden Glöcknerhaus einen Treffpunkt für freidenkende Autoren ein. Auf dem Dachboden dieser "Dissidenten-Datsche" finden 1945 vertriebene Donauschwaben, die häufiger in der Gemeinde zu Gast sind, Abhöranlagen. György Dalos berichtete dazu: "Konrád reagierte gelassen auf das erhöhte Interesse der Behörden. Er arbeitete ruhig an seinem Roman 'Der Komplize' weiter. [...] Und ich war heimlich stolz darauf, eine Wanze mit dem Staatsfeind Nummer Eins der Volksrepublik Ungarn teilen zu können."

Konrád steht bei der Staatssicherheit längst auf der Liste der nächsten Angeklagten. Mit seiner Ruhe und Gelassenheit setzt er jedoch auf subtilen Protest und verzichtet darauf, die Autoritäten offen herauszufordern, wodurch es den Behörden schwer fällt, ihn zu greifen. Ungarn versucht in jener Zeit in besonderer Weise, nach außen einen rechtsstaatlichen Schein zu bewahren. Im Herbst 1974 wird er zusammen mit Iván Szelényi dann doch verhaftet, ihre Manuskripte zum Essay "Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" werden konfisziert. Konrád sagte mit seinem typischen ironischen Unterton auf der Biennale 1977 dazu: "Vor drei Jahren wurde mir [...] eine große Ehre zuteil: an die hundert Mitarbeiter der politischen Polizei versuchten zu verhindern, dass eine zusammen mit einem Freund verfasste Abhandlung das Tageslicht erblickte. Eine knappe Woche sahen wir beide auch nicht viel vom Tageslicht, aber diese kleine Lektion war sehr nützlich."

Ende der 70er Jahre bis 1988 darf Konrád in Ungarn nicht mehr publizieren. Stark zensiert erscheint 1977 als letzter Roman "Der Stadtgründer". Die vielen Auslassungen sind nur über illegale Kanäle erhältlich. „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" kann im folgenden Jahr in Ungarn nicht mehr herauskommen. Bei der Vorstellung des Buches hier in Frankfurt begegne ich Dir zum ersten Mal. In Deiner Heimat wirft man Dir vor, ein Verräter der Nation zu sein. Die Anfeindungen halten Dich aber nicht davon ab, weiter zu arbeiten und Deine Freiheit auf eigene Weise zu praktizieren. Oder um es mit den Worten Václav Havels aus seinem Essay "Versuch, in der Wahrheit zu leben" auszudrücken: "Die Dissidenten' fühlen sich nicht als Abtrünnige, Treulose, weil sie nämlich niemandem untreu geworden sind, eher umgekehrt: Sie sind sich selbst mehr treu geworden."

Die ungarische Führung versucht, kritische Autorenstimmen auf andere Weise als die meisten osteuropäischen Staaten zum Schweigen zu bringen. Während Havel in der CSSR und Adam Michnik in Polen für ihren Einsatz für die Menschenrechte viele Jahre weggesperrt werden, versucht man, Konrád mit einer geistigen Vertreibung ruhig zu stellen, ohne dabei einen Märtyrer zu schaffen. Er erhält Ausreisegenehmigungen, um im westlichen Ausland zu publizieren und sich an Diskussionen zu beteiligen. Das Konzept geht nicht auf, er bleibt für die Ungarn hörbar. Seine Werke werden von Exilverlagen gedruckt und in sein Heimatland geschmuggelt (auch von mir). Außerdem sind er und seine Texte Bestandteil der ungarischen Programme des Senders Freies Europa. Über die Jahre des politischen Exils treffen wir uns immer wieder und arbeiten zusammen.

Besonders in den 80er Jahren gewinnt die Mitteleuropa-Diskussion an Bedeutung. Viele Intellektuelle melden sich mit der Hoffnung zu Wort, Lösungen für den Ost-West-Konflikt zu finden: Adam Michnik und Hans Magnus Enzensberger, Václav Havel und Milan Kundera, der Mitteleuropa als den von den Sowjets gekidnappten Teil des Westens bezeichnet oder als den Teil Europas definiert, "der geographisch in der Mitte, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt". György Konrád leistet mit seinem Buch 'Antipolitik - Mitteleuropäische Meditationen" einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Er fordert einen Kompromiss zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, zwischen Ost und West, eine Emanzipation von der Vormundschaft der beiden Weltmächte. Mitteleuropa solle eine neutrale Rolle zukommen mit dem Ziel, zu Moskau und Washington gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Dabei misst er den Menschen durch den Antipolitik-Ansatz eine große zivilgesellschaftliche Bedeutung bei: "Antipolitik ist Politisieren der Menschen, die keine Politiker werden, und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Der Antipolitiker ist in seinem Denken nicht 'politisch'. [...] Antipolitiker ist derjenige, der den Staat zu einer Abmagerungskur zwingen will und der sich nicht geniert, deshalb als Staatsfeind angesehen zu werden."

Mitte der 80er Jahre kommt es auch zur Vernetzung der Friedensund Bürgerinitiativen aus Ost und West, die mit einer doppelten Gesellschaftskritik Wachstumsdogmen im Westen und politische Knechtschaft im Osten anprangern. Sie wählen die KSZE, an deren Verträge auch die sozialistischen Regierungen gebunden sind, als Appellationsinstanz. Das Memorandum "Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen" von 1986 unterzeichnen namhafte Aktivisten, unter vielen anderen auch György Konrad und das Gründungsmitglied der Grünen Petra Kelly.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems entwickelt sich Ungarn zu einer Demokratie. Man lernt, Politik zu machen, aus Antipolitikern werden Politiker. György Konrád bleibt im Gegensatz zu anderen Dissidenten der Antipolitiker, der kein politisches Amt begleiten möchte, sich aber einmischt, wenn er es für angebracht hält - ganz nach Heinrich Bölls Aufruf "Einmischung erwünscht". Auch wenn er dafür angefeindet wird, beispielsweise von nationalistischen oder antisemitischen Kräften. Von 1990 bis 1993 ist er internationaler P.E.N.-Präsident und 1997 bis 2003 der erste ausländische Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Hier versucht er unter anderem, über den Balkan-Rundtisch einen Dialog der unterschiedlichen Nationalitäten in Gang zu setzen. Für seinen geistigen Einsatz zur Überwindung der europäischen Spaltung und zur Aussöhnung wird György Konrád 2001 mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen bedacht.

Nach einem Jahrhundert, das von Unrecht geprägt wurde, ist unser Kontinent bis auf wenige Ausnahmen frei. Mit dem Ende des Blocksystems sind neue Nationalstaaten entstanden, leider nicht überall ohne Konflikte. Insgesamt gibt die Entwicklung aber Grund zur Hoffnung, auch wenn ich im Europaparlament spüre, dass der Weg zur europäischen Einigung teilweise mühsam ist. Die Europäische Union beruht auf der freiwilligen Entscheidung von Menschen unterschiedlicher politischer und kultureller Herkunft zu einem friedlichen Zusammenleben zum Vorteil aller. Es sollte uns gelingen, nationale Egoismen zu überwinden und zueinander ehrlich zu sein, aus der Vergangenheit zu lernen und uns gegenseitig Fehler einzugestehen, um gemeinsam in eine bessere Zukunft blicken zu können.

Ich danke Dir, lieber György, sehr für Deinen lebenslangen Beweis, dass es sich auch in schwierigen Lagen lohnt, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen, in der wir alle in Frieden und Freiheit leben können und in der Kriege und Vertreibungen Vergangenheit sind.

Dankesrede des Preisträgers
György Konrád


GLEICH WER DORT UNTEN LIEGT

Der Raum ist die grundlegende Dimension menschlichen Lebens. Die meisten Erinnerungen sind an den Raum gebunden. Der Raum ist bewohnt: mit unserer Vergangenheit, unseren Angehörigen, Ahnen und Nachfahren. Eins und identisch ist der Mensch auch mit seinen unsichtbaren Wurzelfasern. Das verwickelte Beziehungssystem zwischen ihm und seiner Umwelt ist eine ökologische Wirklichkeit, die nur im Namen abstrakter Ideologien außer acht gelassen werden kann. Dort zu leben, wo er zu Hause ist, diesem Recht des Menschen kommt entscheidende Bedeutung zu. Unser Recht auf den Ort, wo wir geboren worden sind und wo wir leben, ist ein fundamentales und unantastbares. Den Menschen von seinem Wohnort zu trennen, heißt, ihn verstümmeln. Man kann den Menschen einsperren, und man kann ihn aussperren; beidem liegt ein Befehl zur Gewaltanwendung zugrunde, für dessen Beachtung bewaffnete Wachen sorgen. Flexibilität, Überlebensfähigkeit, Anpassung und Überwindung sind menschliche Tugenden. Verlust aber kann nicht geleugnet werden; er kann ein Leben lang schmerzen. Deportation von Menschen oder deren mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ihrem Wohnort sind ein international zu ahndendes Verbrechen. Setzt eine Herrschaft den Staat mit irgendeiner Nation, einem Volk, einer Rasse, Ethnie, Religion oder Klasse gleich, kommt es zu Diskrimination, Ächtung und Rechtsverletzungen all denen gegenüber, die aus der dominierenden Kategorie herausfallen. Findet die Idee des homogenen Nationalstaats als Norm Verbreitung, dann kann irgendeine Abstraktion (Nation, Religion, Klasse, Ideologie) Deportationen anstiften. Ethnische Säuberungen wollen eine frisch zu besiedelnde leere Region. Eine wiederkehrende Art, wie nicht erwünschte Bevölkerungsgruppen entfernt werden: durch Massenmord Schrecken verbreiten, damit die Menschen Hals über Kopf Haus und Hof verlassen. Durch Niedermetzeln Hunderter können Zehntausende vertrieben werden. Der Begriff nationaler Selbstbestimmung schließt die Fiktion ein, daß jeder nationalen Gemeinschaft ein Staat zusteht. Noch dazu als ausschließliches Recht. Mittel- und Osteuropa, den Balkan mit einbegriffen, ist eine Region nationaler, ethnischer und religiöser Vermischung. Jede Grenzverschiebung verursacht hier Verletzungen und schneidet in etwas Lebendiges; Grenzen können hier nur als Schadensbegrenzung ein sinnvolles Ziel sein.

Die modernen Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Führer meinten, sie dürften über den einzelnen und die Völker verfügen, dürften sie umsiedeln, zur Arbeit, zum Töten und Getötetwerden verpflichten. Das Selbstbestimmungsrecht der menschlichen Person ist ein höherwertiges Prinzip als das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Welche Freiheit ist mehr wert? Die der Regierungen gegenüber den Bürgern oder die der Bürger gegenüber der Regierung? Die Umsetzung von Völkern, die Deportation, gehört, einhergehend mit dem Genuß patriotischen Ausplünderns, zu den bizarren Leidenschaften omnipotenter Führer. Ethnische Säuberung? Scheußlich allein schon das Wort. Schmutz der Vertriebene? Unflat der andere? Vielleicht gar die benachbarte Ethnie? Warum nicht deportieren? Sollte etwa der Abtransport meiner Cousinen, Cousins und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Die europäischen Juden sind von der größten Vertreibung heimgesucht worden. Zu einem Anteil von zirka sechzig bis siebzig Prozent hat sie zu ihrer Vernichtung geführt. Ein brauchbarer Parameter für das Ausmaß des Verbrechens: Wieviel Prozent der Deportierten sind getötet worden, und wie viele sind - zum Beispiel auf den Todesmärschen - infolge der physischen Belastungen der Vertreibung gestorben? Für kollektive Bestrafungen und Verfolgungen ganzer Gemeinschaften sind keinerlei politische, nationale und religiöse Rechtfertigungen möglich. Eine Bestrafung von Kindern für die eventuellen Vergehen ihrer Eltern ist unzulässig. Selbst die Söhne und Töchter von Massenmördern sind unschuldig. Die nazistischen Deportationen haben die Aussiedlung der Ungarndeutschen nicht gerechtfertigt. Die Tat ist ähnlich. Nur Täter und Opfer sind andere. Nicht einmal unbedingt. Das administrative Personal, das in Ungarn die Aussiedlung der schwäbischen, sächsischen und deutschsprachigen ungarischen Staatsbürger organisierte, war mehrheitlich mit denen identisch, die schon die Deportation der Juden abgewickelt hatten. Das Reiseziel der jüdischen Deportierten waren das Konzentrationslager und mit großer - siebenundsechzigprozentiger - Wahrscheinlichkeit der Tod. Österreich und Deutschland das Reiseziel der Volksdeutschen. Obwohl unterwegs viele starben und ihre Aufnahme nicht immer herzergreifend war. Wenn man, alles zurücklassend, mit einem Koffer in der Hand gehen muß, gleich welche Angaben im Personalausweis eines Menschen stehen mögen, dann erleben wir eine ähnliche Erniedrigung. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind aus Osteuropa vierzehn Millionen Volksdeutsche nach dem Westen ausgesiedelt worden. Zwei Millionen von ihnen sind auf der Fahrt gestorben.

In den siebziger Jahren mietete ich in einem schönen kleinen Dorf in der Umgebung von Buda ein Haus. Vor dem Krieg waren hier annähernd die Hälfte der Bevölkerung Deutsche. Wer sich in der Volkszählung von 1941 zur deutschen Muttersprache bekannte, der wurde nach 1945 ausgesiedelt. Ein Menschenalter später suchten sie oder ihre Kinder dieses kleine Dorf auf. Sie kamen mit guten Autos, waren elegant gekleidet und brachten den armen Verwandten kostbare Geschenke. Gäste und Gastgeber sannen wechselseitig darüber nach, wer wohl mehr Grund haben sollte, den anderen zu bedauern oder wer bereit sei, mit dem anderen zu tauschen. In ihren Gesprächen damals tauchte auch der Gedanke auf, daß diejenigen gut gefahren seien, die man vertrieben habe, und nicht diejenigen, die hatten bleiben dürfen. Auf einen Schlag waren Millionen von Deutschen von Osteuropa nach Westeuropa hinübergestoßen worden, aus der Region der Unterdrückten auf das Spielfeld der Demokratien. Durch die Deportation sind die aussiedelnden Länder ärmer geworden, die aufnehmenden dank den emsigen Ankömmlingen reicher. Meines Wissens erheben die Nachkommen der Vertriebenen und die deutsche politische Klasse weder einen Anspruch auf ein Rücksiedlungsrecht noch auf materielle Entschädigung. Sie bestehen lediglich auf der Erklärung dessen, daß die Aussiedlung der Volksdeutschen, die Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld, kein korrektes und menschenwürdiges Handeln gewesen sei. Ich halte es für beruhigend, daß Dr. József Antall, der erste demokratisch gewählte ungarische Ministerpräsident nach der Wende, diesen Standpunkt bereits in der Folge von 1990 eingenommen hat. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, so glaube ich, daß in den Fußstapfen Vaclav Havels auch die tschechische und polnische Regierung im Rahmen einer entsprechenden wechselseitigen Erklärung dazu bereit sein werden. Vertreibungen sind meist irreversibel. Wer irgendein Gut eines Vertriebenen in Besitz genommen hat, der kann inzwischen auch schon ein Recht daran geltend machen; er hat es genutzt, mehr oder weniger darauf acht gegeben, sich daran gewöhnt. Auch ein Rückgängigmachen der Aneignungen wäre ein Akt der Gewalt. Ich kenne die Resignation des einstigen Bewohners, wenn er sein ehemaliges Haus aufsucht. Er nimmt es in Augenschein, grüßt und geht. Eine klügere Reaktion fällt ihm nicht ein. Auch in der jüngsten Geschichte unserer Region hat es sich erwiesen: Wann immer ein neuer Nationalstaat ohne Garantien für den Minderheitenschutz anerkannt worden ist, wurden dadurch die Voraussetzungen und die Maschinerie zur Vertreibung und Deportation mehrerer hunderttausend Menschen geschaffen. Das Anerkennen eines Staats ist eine edle Geste, doch bringt es frevlerisches Treiben in Hülle und Fülle mit sich.

Mehrsprachigkeit ist möglich. Sie ist ein häufiges Phänomen. Der Staat muß nicht bestimmen wollen, welche Sprache die Kinder zu sprechen haben. Warum auch sollte er eine einsprachige Ausschließlichkeit anstreben? Für die auf seinem Territorium lebenden Kinder muß er neben der Mehrheitssprache als Lingua franca auch die Vermittlung der Minderheitensprachen und -kulturen gewährleisten. Auch deshalb ist unser Europäertum ein sinnvolles Projekt, denn die Union funktioniert als eine geeignete Sicherheit gegen jedwede Deportation. Krieg und Moral des Anstands sind von vornherein miteinander unvereinbar. Getötet haben beide Seiten viel. Die eine mehr als die andere. Jawohl, es zählt, wer den Krieg gewollt und wer ihn angefangen hat. Die Mehrheit der Deutschen billigte ihn anfangs zusammen mit den damit einhergehenden Sondermaßnahmen, so dem Verschwindenlassen der Juden. Sie bedauerten nicht, daß ihre Mitbürger abgeholt wurden, sie schmähten ihre Marschkolonnen, verlachten sie und halfen bei der Jagd auf Entflohene. Aktiv boshaft war die Mehrheit nicht, doch unternommen gegen das Unrecht hat sie nichts, und daß sie mit den Geschehnissen nicht einverstanden war, dem hat sie auch keinen Ausdruck verliehen. Die Protestierenden registriert die Geschichte namentlich. Fast immer werden dieselben erwähnt. Was darauf hindeutet, daß es nicht viele gewesen sind. Auf sowjetischem Gebiet haben die Deutschen viele Mitglieder der kommunistischen Partei erschossen, auf deutschem Territorium haben die Sowjets viele Mitglieder der Nazipartei erschossen. Beschuldigungen können Beschuldigungen widerfahren. Schwierig, die Brutalität der Geschichte einer moralischen Würdigung zu unterziehen. Die Lauteren unter den Minderheitendeutschen beteuerten, zum Mutterland gehören zu wollen. Sollen sie doch, sagten die osteuropäischen Regierungen den deutschen Minderheiten, nachdem diese eine Niederlage erlitten hatten, und vertrieben sie. Auf Kosten des jeweils anderen stabilisierten sich die europäischen Nationalstaaten, homogenisierten ihre Bevölkerung. Die Inkompatibilität von Minderheiten und Mehrheiten ist in den Nationalstaaten eine ideologische Hysterie gewesen, die verheerende Folge des Fanatismus politischer Schriftsteller. Der Transfer, die Umsiedlung, der Abtransport von Volksgruppen, ist am Ende des Zweiten Weltkriegs auch im Sprachgebrauch der Westalliierten, der Demokratien, üblich geworden. Es verband sich damit die Hoffnung, daß gemeinsam mit den Nationalitäten auch die Nationalitätenkonflikte verschwinden würden. Verbreitung fand diese Idee während des Krieges, als man sah, daß sich die Nationalitätenkonflikte derart erhitzt hatten, daß sie für genügend Zündstoff sorgten, um den Krieg atmosphärisch und ideologisch vorzubereiten.

Sechzig Jahre später macht es die Europäische Union dank ihren Schöpfern und der Geschichte möglich, daß du dort, wo du gerade bist, der sein kannst, der du bist. Das anvisierte Ziel einer Vereinigung der Volksbrüder und -schwestern ist zum Grund für verschiedenste Abschiebemaßnahmen geworden. Die nationalistisch ausgerichtete politische Öffentlichkeit erblickte in der ethnisch gemischten Bevölkerung eine Gefahr. Bei einem gemischten Wohnen könnte es zu Auseinandersetzungen, vielleicht sogar Pogromen kommen. Diese Anschauung verachtet den Zeitfaktor. Die Tatsache, daß jemandes Familie seit Jahrhunderten dort lebt, wo sie lebt, ist zu einem nebensächlichen und gewichtslosen Aspekt geworden. Die Regierungschefs der Obrigkeitsstaaten meinten, im Recht zu sein, wenn sie Zivilisten ebenso bewegten wie die Truppenkörper. Mit dem Volk, nicht nur mit dem besiegten, sondern auch mit dem eigenen, dem siegreichen, tun sie, was sie wollen. Eigentlich ist die Bevölkerung eine Armee. Und die fremde Nationalität ist eine fünfte Kolonne. Auch die alten Frauen und die Säuglinge. Auf der anderen Seite aber einzig Feinde. Sie dürfen vertrieben, ausgeraubt und gelegentlich auch getötet werden. Der totale Krieg, uns vollkommen ins Gefecht zu stürzen, ins Abenteuer, ist ein deutscher Begriff. Der Kult des Dienens und die Führervergötterung sind ein und dasselbe. Es existieren zwei Sichtweisen: die von denen, die aussiedeln, und die von denen, die ausgesiedelt werden. Die Alliierten wollten den Deutschen begreiflich machen, daß ihre frühere Strategie falsch war, katastrophal und tödlich. Zum Kriegsende hatte auch die deutsche Zivilbevölkerung unter den angelsächsischen Bombenteppichen zu leiden und in der Folge in der sowjetischen Besatzungszone unter gnadenloser Willkür und sexueller Gewalt. Deutsche Familien, die auf die eine oder andere Weise nicht von der Vertreibung betroffen gewesen wären, gibt es wenige. Nach dem Krieg nahmen die Deutschen diszipliniert zur Kenntnis, daß sie verloren hatten; das Schicksal nahmen sie mit apathisch wirkendem Fatalismus an und taten, was im Interesse des Überlebens getan werden konnte. Die deutschen Nachkriegsgenerationen haben aus dem Geschehenen gelernt, daß nationalstaatliche Großmannssucht zu Untergang und Tod führt. Dann kamen sie wieder auf die Beine und wurden erneut eine starke Nation. Doch mit ihrer nazistischen Vergangenheit kokettieren sie nicht, warten darauf, daß sie in Gesellschaft der freien Nationen dank ihrer sich allgemeiner Anerkennung erfreuenden Leistungen mit sich selbst zufrieden sein dürfen. Schriller Selbstmitleidrhetorik enthalten sie sich; sie sind um objektives Formulieren bemüht.

Am ehesten noch sind die Deutschen bestrebt, sich daran zu erinnern, daß Juden unter ihnen gelebt haben; sie haben Synagogen instandgesetzt, würdigen die Verdienste ihrer einstigen und gegenwärtigen jüdischen Mitbürger, und antisemitische Äußerungen gestatten sie sich nicht einmal in dem Maße wie die Bewohner anderer europäischer Demokratien. Sowohl die Deutschen als auch deren Nachbarn brauchen die Gelassenheit gerechten Selbstwertgefühls, wohnen doch zu beiden Seiten der Ostgrenzen Völker mit verworrenem Selbstbewußtsein, von denen im Rückblick auf die Vergangenheit kein einziges vor einem sie plagenden nationalen Gewissen Schutz findet. Die Deutschen wissen, daß ihr nationalsozialistischer Staat 1939 ohne besonderen Grund und ohne jegliches Recht Tschechien und Polen angegriffen hat, Nachbarnationen. Wodurch allein in letzterem Land der Tod von sechs Millionen polnischen Staatsbürgern verursacht worden ist. Jeweils zur Hälfte der Tod von Christen und Juden. Die Erinnerung an einen Raubmord zu ertragen ist für keine Seite leicht. Gereizte Erklärungen belegen, daß die teils als Wiedergutmachung gewonnenen Gebiete eine irgendwie beunruhigende Errungenschaft sind. Mir selbst stelle ich die Frage, ob auch mich - als ungarischen Juden - der kollektive Groll, der den Krieg selbst in Friedenszeiten überlebt, in Versuchung gebracht hat. Müßte ich diese Frage mit Ja beantworten, so wäre ich darauf nicht stolz. Allerdings wäre ich auch damit nicht einverstanden, würden wir in keinerlei Sinn von kollektiver Verantwortung, Last und Aufgabe sprechen, die uns durch Geburt zufallen. Dadurch, daß wir von unseren Eltern irgendwo auf die Welt gesetzt worden sind, erben wir bereits den Ort, an dem wir leben, ebenso wie unseren Genbestand. Und zusammen mit dem Ort unsere gesamte Kultur; derart, daß auch wir selbst ein Erbe sind. Täuschen wir uns nicht selbst in dem Glauben, daß wir, freie und autonome Wesen, erst mit unserer Geburt begonnen hätten. Mit unserer Geburt erfahren wir eher nur eine Fortsetzung, klinken uns in eine lange Kette ein. Verantwortung erben wir ebenso wie unsere Sprache und geistigen Werte, wie unsere Vorurteile. Der heute geborene Säugling war schon ausführlich vorbereitet worden. Mit dem ersten Atemzug hat er jenes Päckchen bekommen, das für jeden Nachkommen Last und Belohnung ist; darin enthalten sind Glück und auch Leid der Vorfahren. Wie weitgehend er sich mit den Tugenden und Verbrechen seiner Nation identifizieren will, bleibt seiner Entscheidung überlassen. Soll er den Ahnen verzeihen? Aber wer ist er denn, daß er verzeihen soll? Schuldet er ihnen nicht besser Mitgefühl?

Die vertriebenen Deutschen reisen zum einstigen Wohnort ihrer Eltern, erwerben dort unter Umständen Immobilien, etwa ein ehemaliges schwäbisches Haus, und gründen vielleicht irgendein Unternehmen. Ihre Vorfahren haben zwar viel verloren, doch sie könnten dadurch, daß sie als verhältnismäßig wohlhabende und selbstsicher sich orientierende Westbürger herkommen, viel gewinnen. Der Verlust der Eltern mag unersetzlich sein, doch gelangen sie in eine Umgebung, der sie sich, wenn auch mit Verletzungen, relativ organisch anpassen können. Auch sie beruhigt es und erfüllt es mit heiterem Selbstwertgefühl, Teil der westlichen Welt geworden zu sein. Wie sehr wir uns doch als Individuen von unserer Nation, unserem Volk unterscheiden. Muß ich mich zu den Gefühlen, Ängsten und Phantasien jenes Volks, dem ich angehöre, bekennen? Muß ich auch seinen Zorn übernehmen? Empfinden wir die Leiden der vorangegangenen Generationen nach, können wir uns gründlich quälen. Die Kinder jeder Diktatur können entscheiden, ob sie ihre Väter zusammen mit deren Verbrechen lieben. Fortwährend rutschen wir zwischen unserem personalen Ich und unserem kollektiven Ich hin und her. Einmal bin ich lediglich ich und dann zusammen mit den anderen wir, mit denen wir ein sensibles, gemeinsames, plurales Ich bilden. Gedichtet haben wir uns selbst und unsere Feinde. Das in die Vergangenheit reichende Wir und das in die Vergangenheit reichende Sie sind gleichermaßen Mythen. Wer weiß schon, wann ich ich ich bin und wann wir? Europa haben wir als Schule unerzogener Völker geerbt, wo es noch keine leichte Aufgabe ist, sich gegenseitig einen Vorschuß an kollektivem Vertrauen zu gewähren und die alltäglichen Übungen zuvorkommender Empathie durchzuführen. Zu sagen, komm, mein lieber Freund, trinken wir zusammen ein Glas, stoßen wir an, es ist nichts geschehen, zumindest zwischen uns nicht, einfach ist das nicht. Auch die gemeinsame Verletzung ist ein gemeinsames kulturelles Vermögen. Widersetzen wir uns dem, daß man uns das Recht auf Traurigkeit wegen der gemeinsamen Verletzung streitig macht! Hernach wird auch der Augenblick kommen, daß wir uns anlachen. Was ist Sache der heute Lebenden? Erinnerungen und Lebensläufe sammeln, die Entwicklung der Lebensschicksale verfolgen, wissen, wer unsere Vorfahren in der Familie oder im Haus gewesen sind, aus Biographien die nationale Geschichte lernen und vor den Friedhöfen das Haupt neigen, gleich wer dort unten liegt.