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Rede der Vorsitzenden Erika Steinbach MdB in der Konrad-Adenauer-Stiftung 9. Juni 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Flucht, Vertreibung, Deportation – vor 70 Jahren war das Alltag für Millionen Deutsche.
Erinnerungen sind wie tiefe Wasser.
Sie können heilsam, sie können aber auch tödlich sein. Wie so oft kommt es auf das richtige Maß und den Gehalt an Wahrheit an.
Der 8. Mai 1945, dessen landauf, landab gedacht wurde, ist eines der Schlüsseldaten der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
An diesem Tage endete die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten über Deutschland und weite Teile Europas und es endete der fürchterlichste Krieg den die Welt bis dahin durchlitten hatte.

Und dennoch ist der fast euphorische knappe Satz: „Tag der Befreiung“ ein Ausblenden der millionenfachen Menschenrechtsverletzung auch nach diesem Tag.
Erinnerung und Gedenken, wenn sie denn den Blick für Gegenwart und Zukunft schärfen und nicht verdunkeln sollen, haben nur dann Sinn, wenn sie auf der ganzen Wahrheit gründen.
Das muss Basis und Anspruch freiheitlicher demokratischer Rechtsstaaten und aller Menschenrechtspostulate sein.

Mit dem 8. Mai 1945 hatten Unmenschlichkeit und Grausamkeit immer noch kein Ende.
Stalins harte Faust legte sich auch über Mittel- und Osteuropa und raffte Millionen Menschen vieler Völker dahin. Flucht und Vertreibung der Deutschen, aber auch von Italienern, Polen und Ungarn waren brutal im Gange.
Es waren fast 15 Millionen Deutsche, die ihre Heimat verloren haben.
Theresienstadt war auch nach Hitler grausam und tödlich, so wie hunderte andere Lager und Orte. Namen wie Potolice, Lamsdorf, Aussig oder Brünn wecken schrecklichste Erinnerungen. Viele Millionen Zeitzeugenberichte Betroffener sprechen im Bundesarchiv eine beklemmende Sprache. Und die Völker jenseits des immer undurchdringlicher werdenden Eisernen Vorhangs lebten bis 1989 unter kommunistischer Herrschaft.
Für die Vertriebenen, die Deportierten aber auch für die unterdrückten Völker klingt deshalb die sehr eindimensionale und leider immer wieder zu hörende Reduzierung des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ wie ein Hohn auf ihr Schicksal.
Menschlichkeit und Menschenwürde waren auch danach in weiten Teilen Europas über Jahrzehnte hinweg leere Worthülsen.

Unmenschlichkeit und Grausamkeit an Schuldlosen waren noch immer nicht verbannt.

Der russische Schriftsteller und Humanist Lew Kopelew, den ich noch persönlich kennenlernen durfte, bewertete aus seiner russischen Perspektive den 8. Mai mit dem Kriegsende als zweischneidig. Er begründet sehr rational:
„Einerseits bedeutete er auch für uns die Erlösung von allen Kriegsnöten und –gefahren, mit denen das Hitlerreich die Menschen bedroht hatte, andererseits aber wurde er zum Triumph eines anderen totalitären Reichs, das eigene und benachbarte Völker brutal unterdrückte (…).
Nun behauptete sich die sozialistische Sowjetunion ohne überflüssige Dekoration als eine imperiale, bürokratisch-polizeilich staatskapitalistische Macht. Der Weltkrieg wurde fortgesetzt mit anderen Mitteln, als Kalter Krieg in Europa.“

Deutschland war von beidem betroffen. Es war, wie Theodor Heuss sehr treffend formulierte „erlöst und vernichtet in einem“.
Der westliche Teil und die dort Heimischen – nicht die Vertriebenen – konnten sich sehr bald als befreit fühlen. Mittel- und Ostdeutschland aber gerieten unter die kommunistische Knute.
Stalins Herrschaft erstreckte sich über halb Europa.  

Warum erinnere ich daran?
Die einseitige Sicht, das Ende des Zweiten Weltkrieges ausschließlich als den Tag der Befreiung zu bejubeln, ist eine rein westliche Sicht und deshalb schlichtweg unanständig, weil man die Nöte der anderen dabei übersieht.
Keinem Menschen, der sich ganz Europa nach diesem Tag betrachtet, kann eine solche Formulierung über die Lippen kommen.
Die Tragik der Jahrzehnte danach war, dass elementare Menschenrechte auch weiterhin für einen erheblichen Teil Europas und für Millionen Menschen keine Gültigkeit hatten.

In Mittel- und Osteuropa wurde der Nationalsozialismus nahtlos durch einen Kommunismus stalinistischer Prägung abgelöst. Robert H. Jackson, der amerikanische Hauptanklagevertreter bei den Nürnberger Kriegsverbrecher Prozessen, beklagte im Oktober 1945 in einem Brief an den US-Präsidenten Harry S. Truman, dass die Alliierten selbst „genau die Dinge getan haben oder tun, für die wir die Deutschen anklagen.

Der britische Philosoph Bertrand Russel schrieb im selben Monat:
„In Osteuropa werden jetzt von unserem Verbündeten Massendeportationen in einem unerhörten Ausmaß durchgeführt und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, … sondern dadurch, dass man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als Teil einer bewussten „Friedenspolitik“.

Und am 25. Oktober berichtete der Berater General Eisenhowers, Robert Murphy, nach Washington:
„Mitarbeiter, die Flüchtlingszüge aus dem Osten ankommen sahen, stellen fest, dass sich die Leute meistens in bedauernswerten Zustand befinden. Einige … berichteten, dass sie ausgeplündert und um die wenigen Habseligkeiten gebracht wurden, die sie überhaupt mitnehmen durften.“

Der amerikanische Historiker Norman Naimark resümierte:
„Tatsache ist, dass ungefähr 2,5 Millionen Deutsche umkamen und 11,5 Millionen vertrieben wurden, einzig und allein weil sie Deutsche waren. Entscheidend war ihre ethnische Zugehörigkeit und nicht ihre Staatsbürgerschaft, ebenso wenig die Frage, ob sie gute oder schlechte Deutsche waren, Faschisten oder Antifaschisten… Das war keine Abrechnung mehr zwischen Bevölkerungsgruppen. Die Vertreibung der Deutschen wurde politisches Staatsziel.“

Angela Merkel sagte als Vorsitzende der CDU Deutschland am 6. September 2003 in ihrer Rede zum Tag der Heimat mit Recht:
„Das erinnert uns daran, dass die Befreiung Europas und auch Deutschlands vom Nationalsozialismus damals für viele Deutsche keineswegs anbrechende Freiheit und das Ende von Leid bedeutete.
In der östlichen Hälfte Europas und in Mittel- und Ostdeutschland übernahm eine neue totalitäre Diktatur die Herrschaft. Wir müssen die Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte ansehen und wir müssen sie weiter vermitteln. Dies gehört für mich zum historischen Bestand unserer Nation und zu einer zukunftsfähigen Kultur des Erinnerns.“

Die Konrad Adenauer Stiftung
und das
ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN
wollen heute dazu beitragen.