Aktuelles

Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2010 Rede Erika Steinbach MdB Vorsitzende der Stiftung

Sperrfrist: Samstag, 28.11.2010, 11.00 Uhr!
Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

die Stiftung "ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN" (ZgV) besteht in diesem Jahr bereits zehn volle Jahre und zum fünften Male verleihen wir heute unseren Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

Unsere Stiftung, gegründet von deutschen Heimatvertriebenen, will die Vertreibungsopfer des 20. Jahrhunderts der Vergessenheit entreißen. Die Idee ethnisch homogener Nationalstaaten ist eine der Hauptursachen für Vertreibungen von ganzen Volksgruppen. Nicht wenige Nationen stellten im Kontext der Vertreibungen sowohl Opfer als auch Täter, zeitlich versetzt oder sogar gleichzeitig.

Mehr als 30 Völker Europas haben im 20. Jahrhundert in Europa und seinen Grenzgebieten als Ganzes oder in Teilen ihre Heimat verloren.

Die Stiftung ZgV stellt sich an ihre Seite und zeichnet mit diesem Preis couragierte Männer und Frauen aus, die Fürsprecher für die Schwächsten in den Verwerfungen der Geschichte waren und sind.

Mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis können Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die sich insbesondere gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung oder bewusste Zerstörung nationaler, ethnischer oder religiöser Gruppen gewandt haben.

Wer in diesem Sinne beispielgebend politisch, künstlerisch, philosophisch oder durch praktische Leistungen gewirkt hat, kann mit unserem Preis ausgezeichnet werden.

Mit der heutigen Preisverleihung ehren wir einen Mann, der durch sein Wirken maßgeblich zu einer offenen Vertreibungsdebatte in der Tschechischen Republik, seinem Heimatland, beigetragen hat.

Die Jury hat einmütig entschieden, außerhalb unseres Zweijahresrhythmus, heute den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis an den Autor und Regisseur David Vondracek zu verleihen.

Seit längerem beschäftigt er sich als mutiger Filmemacher mit der mitteleuropäischen Zeitgeschichte auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten.
In den letzten Jahren konzentrierte sich David Vondracek auf die sogenannten weißen Flecken der tschechischen Geschichte in der Zeitspanne zwischen 1945-1948, die zugleich aber auch deutsche Geschichte ist.
Und ich muss gestehen, dass beim Studium seiner Vita und seines Schaffens auch bei mir ein weißer Fleck gefüllt wurde.

In seiner Dokumentation "Adieu Böhmischer Winkel" beschäftigt er sich mit der Vertreibung der tschechischen Minderheit mit deutscher Staatsangehörigkeit aus dem Glatzer Bergland durch die polnische Verwaltung. Nicht nur aufgrund eigener Familiengschichte weiß ich natürlich, dass die deutsche Bevölkerung aus Schlesien vertrieben wurde. So auch meine Onkel und Tanten, dass aber auch die kleine tschechische Volksgruppe durch Polen vertrieben wurde, das war mir bis dahin unbekannt.
Ausschlaggebend für unsere Preisverleihung war das vorerst letzte Vondracek-Opus, sein Dokumentarfilm "Töten auf tschechisch". Im Mai dieses Jahres wurde er zur besten Sendezeit vom tschechischen Fernsehen ausgestrahlt und rief ein stürmisches Echo samt aggressiv negativen Reaktionen hervor. Die Zuschauer wurden durch die unverblümt gezeigte Realität der Nachkriegszeit zutiefst schockiert.

Der tschechische internationale Schachgroßmeister Ludek Pachman hat zu der gewalttätigen Nachkriegsgeschichte bereits 1982 in einem Interview gesagt: "Ich habe es selbst gesehen… Bewaffnete Banditen, die sich 'Partisanen' nannten, holten willkürlich deutsche Mitbürger aus ihren Häusern. An der Einmündung zur Wassergasse hingen drei nackte Leichen, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, die Zähne restlos herausgeschlagen, der Mund nur noch ein blutiges Loch"… und es folgten weitere Schilderungen von Pachman, die mit der Feststellung abschlossen: "Ich berichte über dieses schreckliche Geschehen nicht, um die Menschen meiner Heimat anzuschwärzen. Ich berichte, weil ich davon überzeugt bin, dass es zu einer wahren Völkerverständigung nur dann kommen kann, wenn sich beide Seiten vorbehaltlos zu dem bekennen, was war."

Der Schirmherr unserer heutigen Preisverleihung, Staatsminister Bernd Neumann, ein großer Liebhaber, Kenner und Förderer des Films, schreibt in seinem Grußwort zu David Vondraceks Dokumentarfilm: "Seine eindringlichen Bilder verschließen sich jeder Relativierung und berühren durch ihre dokumentarische Distanz. Damit hat Vondracek ein in Tschechien wie in Deutschland brisantes Thema mutig aufgegriffen und in die mediale Öffentlichkeit gebracht. Dabei war er sich bewusst, dass ihm nach der Ausstrahlung seines Films möglicherweise nicht nur Sympathie entgegengebracht würde. Sein Film dient aber nicht der Aufrechnung der schrecklichen Ereignisse. Vondracek folgt vielmehr konsequent dem Weg der schlichten Erkenntnis, dass nur die Wahrheit zum Miteinander führen kann."

Das deutsch-tschechische Verhältnis war über weite Strecken, insbesondere zwischen der Mitte des 17. und des 19. Jahrhunderts vom friedlichen Neben-, oft auch Miteinander, vom gegenseitigen Geben und Nehmen geprägt.
Die über tausend Jahre des deutsch-tschechischen Zusammenlebens gestalteten sich 800 Jahre lang unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches.
Und wann immer ich mich im Frankfurter Rathaus, dem Römer, zu festlichen Anlässen befinde, fällt mein Blick auf die Bildnisse der Herrscher dieser Epoche. Unter ihnen hat Karl IV., der die erste Universität im deutschsprachigen Raum in Prag errichten ließ, eine besondere Stellung. Mit der Goldenen Bulle von 1356 regelte er nicht nur die Königswahl und die Kurfürstenrechte, sondern auch Bestimmungen über den Landfrieden und die Beschränkung des Faustrechtes.

Die nationalen Konflikte, deren Folgen im 20. Jahrhundert schließlich eskalierten, haben ihren Ursprung erst im 19. Jahrhundert.

Die Ereignisse der 30er und 40er Jahre, vom Vertrag von St. Germain 1919, dem Münchner Abkommen 1938 über die Protektoratszeit mit ihren Schrecken für die Tschechen und ab 1945 die Vertreibung der Deutschen sind der dramatische Teil des deutsch-tschechischen Miteinanders. Sie wurden zum Gegeneinander schlimmster Art.

Nach über sechs Jahrzehnten geht es bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht um "Schuld und Sühne", sondern um offenen Dialog.

Ich bin überzeugt davon, dass wahrhaftiger Umgang mit Fakten der europäischen Geschichte schneller zu der Erkenntnis führt, dass die Völker Europas auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament leben, dass wir mit der Erkenntnis des Verbindenden die Schrecknisse der Vergangenheit in Offenheit gemeinsam überwinden können.

Ich freue mich sehr, dass Petr Uhl, Mitverfasser der Charta 77, die Laudatio auf unseren Preisträger halten wird.

Lieber Herr Uhl, Sie sind ein furchtloser, mutiger Mann, der für seine offen geäußerten Gedanken zwischen 1969 und 1984 auch mehrfach Gefängnis in Kauf genommen hat. Das erste Mal wurden Sie 1969 nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei inhaftiert. Es hat Sie nicht davon abgehalten, weiter für ihre Überzeugungen einzustehen. Sie als tschechischen Linken und mich als deutsche Konservative eint die Überzeugung, dass Menschenrechte unteilbar sind, dass sie für jedermann, unabhängig von Glauben oder Volkszugehörigkeit, streitbar verteidigt werden müssen. Und es ist unsere Aufgabe, sich offensiv an die Seite der Opfer zu stellen, an die Seite aller Opfer. Lieber Petr Uhl, Sie haben das Wort, um unseren Preisträger David Vondracek zu ehren.

David Vondracek

wurde am 30.4.1963 in Marienbad geboren. Er ist Autor und Regisseur von Reportage- und Dokumentarfilmen und arbeitet eng mit dem öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen zusammen. Seit langem beschäftigt er sich mit der mitteleuropäischen Zeitgeschichte – oft in einer nichttraditionellen Betrachtungsweise aber jedes Mal auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten.
Beispiele sind:
• ein TV-Dokument über die tschechischen NS-Gegner und Häftlinge des KZ-Dachau, die ein halbes Jahr keine Sonne gesehen haben: unter Tage leisteten sie Sklavenarbeit bei der Montage von Raketen
• eine Dokumentation der Geschichte Prager jüdischer Zwillinge, die im KZ-Auschwitz Opfer medizinischer Versuche wurden.

In den letzten Jahren konzentrierte sich David Vondracek auf die sog. weißen Flecken der tschechischen Geschichte in der Zeitspanne 1945-1948.
In drei Dokumentarfilmen, die in den letzten zwei Jahren vom tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, erzählt er, ohne zu ideologisieren "bloß" die Lebensgeschichte von Menschen verschiedener Nationalitäten, die in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit, in der mächtig geschnitzt wurde, zu Spänen geworden sind – wie er sagt.

In der Dokumentation "Adieu Böhmischer Winkel" beschäftigt er sich mit der Vertreibung der tschechischen Minderheit mit deutscher Staatsbürgerschaft aus dem Glatzer Bergland durch die polnischen Neusiedler.

Der Dokumentarfilm "In das (un)gelobte Land" behandelt die Besiedlung des Sudetenlands nach der Vertreibung der alteingesessenen Sudetendeutschen. An der Geschichte der tschechisierten ungarischen Familie Tarnoczi aus Teplitz entdeckt David Vondracek die weniger bekannte Tatsache, dass sich unter den Neusiedlern in der Nachkriegszeit auch Tausende von Menschen gegen ihren Willen befanden. Zum Beispiel rund vierzigtausend Ungarn aus der Südslowakei, die gemäß eines Dekrets des CSR-Präsidenten Edvard Benes mit Gewalt in Gebiete deportiert wurden, in denen bis 1945 deutsche Bevölkerung lebte.

Das vorerst letzte Vondracek-Opus dieser Art ist der Dokumentarfilm "Töten auf tschechisch", der vom tschechischen Fernsehen im Mai dieses Jahres ausgestrahlt wurde. Er rief ein stürmisches Echo samt aggressiv negativer Reaktionen hervor. Die Zuschauer wurden durch die unverblümte Realität der ethnischen Säuberungen der Nachkriegszeit schockiert, bei denen Zehntausende deutscher Zivilisten, Frauen und Kinder inbegriffen, ums Leben kamen. Der Autor und Regisseur weist auch auf die oft nicht beachtete Tatsache hin, dass unter den Organisatoren der Massaker in der Nachkriegszeit nicht selten Menschen waren, die später zu Stützen des kommunistischen totalitären Regimes gehörten und die Verfolgung der tschechischen Widersacher organisierten. In diesem Dokument benutzt David Vondráèek einzigartige Aufnahmen des tschechischen Amateurfilmers Jiri Chmelicek, der in den ersten Tagen nach dem Kriegsende eine Massenhinrichtung deutscher Zivilisten in einer Prager Vorstadt gefilmt hatte. Das Dokument "Tötung auf tschechisch" wurde im Oktober dieses Jahres auf dem Internationalen Festival der Filmdokumente in Iglau von der Zeitschrift "Respekt" als das beste audiovisuelles Werk des Jahres 2010 ausgezeichnet.

Petr Uhl

Geboren am 8. Oktober 1941 in Prag
1958 Abitur, Studium des Maschinenbau, Diplom-Ingenieur in Prag

1968-1969
aktiv in der Bewegung der revolutionären Jugend nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei

1969-1973
Gefängnisaufenthalt

Mitgründer der Charta 77

1977-1979 und 1984-1989
Arbeit in der Bürgerbewegung Charta 77
Gründung des Komitees zur Verteidigung von zu Unrecht Verfolgten VONS

1979-1984
Gefängnisaufenthalt

seit 1978
journalistisch in verschiedenen Ämtern tätig

1990-1992
Direktor der Nachrichtenagentur CTK und
Mitglied des Tschechischen Parlamentes

1998-2001
Beauftragter der tschechischen Regierung für Menschenrechte

2002
Präsident des Komitees gegen Folter des Rates für Menschenrechte der tschechischen Regierung

seit 2002
Mitglied in der Partei der tschechischen Grünen, die er 2007 wegen ihrer Koalition mit der ODS wieder verlässt

2006-2007
Mitglied im Rat der Regierung für Menschenrechte

2007
gibt er alle Ämter auf

Preise und Auszeichnungen
Verdienstorden: Tschechische Republik 1998, Polen 2000, Deutschland 2001, Frankreich 2002
2002 Österreichischer Journalistenpreis von "Reporter ohne Grenzen"
2006 Ritter der französischen Ehrenlegion
2008 Europäischer Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft

Laudatio

Sehr geehrter Herr Vondracek, sehr geehrte Frau Steinbach, sehr geehrte Damen und Herren vom Zentrum gegen Vertreibungen, sehr geehrte Anwesende!

Es ist für mich eine große Ehre, dass ich hier, in der denkwürdigen Paulskirche die Laudatio auf den tschechischen und wahrhaft europäischen Journalisten David Vondracek halten darf. Es ist die Laudatio anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises, den das Zentrum gegen Vertreibungen bedeutenden Persönlichkeiten der europäischen Verständigung verleiht.

Für mich ist schon der Name des Preises ermutigend. Es war Franz Werfel, ein deutsch schreibender Schriftstellter aus einer Prager jüdischen Familie, der mit seinem Roman aus dem Jahr 1933, "Die vierzig Tage des Musa Dagh", die an den Armeniern im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit leidenschaftlich anklagte. An Werfels Roman zu erinnern ist auch deshalb richtig, weil das Buch im Dritten Reich, wegen der Parallelen zum Genozid an den Juden im nazistischen Europa, verboten war.

Das Zentrum gegen Vertreibungen wurde von zwei großen deutschen und europäischen Demokraten gegründet, der hier anwesenden Erika Steinbach von der Christlich demokratischen Partei und dem bereits verstorbenen Peter Glotz von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der aus Eger stammte und somit auch ein recht enger Landsmann von David Vondracek war. Die Laudatio in diesem Rahmen zu halten ist für mich auch deshalb eine Ehre, weil das Zentrum gegen Vertreibungen durch die Verleihung des Menschenrechtspreises an David Vondracek beweist, dass es die Ziele, die es sich gesetzt hat, erfüllt. Es setzt sich nämlich für die Erhaltung der miteinander verflochtenen Kultur und Geschichte, des miteinander verknüpften Schicksals der deutschen und europäischen Vertriebenen ein, indem es nicht nur hilft, ihre kulturellen Traditionen zu bewahren, sondern sich auch damit befaßt, wie sie in den neuen Gesellschaften, wohin sie – oder ihre Eltern - vertrieben wurden, aufgenommen und integriert wurden.

Ich glaube, Peter Glotz hat das vor neun Jahren sehr gut ausgedrückt:
"Das Zentrum gegen Vertreibungen soll nicht vor allem unsere Erinnerungen pflegen, es soll dazu beitragen, Vertreibungen weltweit zu ächten, die Völkergemeinschaft zu sensibilisieren und die Auseinandersetzung mit Ethnonationalismus und der Idee des ethnisch homogenen Nationalstaats systematisch zu führen. Insofern wird dieses Zentrum ein Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus sein."

Dieser Idee entspricht auch die bisherige journalistische Tätigkeit von David Vondracek. Er selbst sagt, er versuche in seinen Filmdokumenten die große und die kleine Geschichte miteinander zu verknüpfen. Diese beiden Arten der Geschichte, mit denen er sich befasst, die große und die kleine Geschichte, das sind die Geschichte der Verbannten und Vertriebenen, die Geschichte ihrer Leiden und manchmal auch ihres Todes. Verbunden damit ist auch das Schicksal jener, die Täter oder Zeugen dieser Handlungen waren. Und es geht bei weitem nicht nur um die Deutschen, die in den Jahren 1945 und 1946 aus der Tschechoslowakei nach Deutschland und Österreich vertrieben wurden. David Vondracek geht es nicht nur um dieses Leid, sondern auch um das Leben der Vertriebenen danach. Ihm geht es auch um die Erinnerungen und das Leben jener, die direkt oder indirekt an der Vertreibung schuld waren, und um die Erinnerungen ihrer Nachkommen.

Der heutige Laureat David Vondracek wurde 1963 in Marienbad geboren, wuchs in Chodau bei Karlsbad auf und absolvierte das Gymnasium in Falkenau. In seiner Kindheit besuchte er häufig seine beiden Großmütter, die unweit von Marienbad lebten – die eine in Dürrmaul, die andere im Ort Dreihacken. Beide waren Deutsche, sind aber paradoxerweise erst nach dem II. Weltkrieg in die Gegend von Marienbad gekommen. Die Großmutter väterlicherseits, mit Mädchennamen Nowak, stammte aus Netschetin bei Manetin, also aus der Gegend von Pilsen, wo Deutsche und Tschechen lebten. Die Großmutter mütterlicherseits war Karpatendeutsche, die Tochter des Kleinbauern Schmidt aus dem Dorf Oberstuben im Kreis Bad Stuben, wo vor allem Deutsche und Magyaren lebten. David Vondraceks Großvater mütterlicherseits, Frantisek Vanek, stammte aus Krasonov, einem Dorf auf der Böhmisch-Mährischen Höhe, der als Tscheche, zusammen mit seiner Frau, 1939 die klerofaschistische Slowakei, in der Tschechen verfolgt wurden, verlassen musste. Vertreibung gab es also in David Vondraceks Familie schon bevor er geboren wurde, ebenso wie die Besiedlung eines Gebietes, wo zuvor die späteren Vertriebenen lebten.

Seit seiner Kindheit war David Vondracek mit der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Andersartigkeit konfrontiert. Er wuchs in einer Gegend auf, wo neben den Tschechen aus dem Landesinneren Reste von Sudetendeutschen lebten, vor allem aus deutsch-tschechischen Familien. Hier lebten aber auch Wolhynientschechen, die nach dem Krieg aus der sowjetischen Westukraine gekommen waren. In den Dörfern um Tachau herum, lebten auch orthodoxe Ruthenen, die aus dem nordöstlichen Rumänien stammten und von der örtlichen Bevölkerung für Rumänen gehalten wurden; nach dem Krieg wurden sie von den Behörden zu Slowaken gemacht, damit sie als ethnische Tschechoslowaken entsprechend den Dekreten von Präsident Edvard Beneš ins Sudetenland umgesiedelt werden konnten. David Vondráček begegnete auch Tschechen aus Preußisch-Schlesien, es waren teilweise kulturell germanisierte reformierte Protestanten, die zweihundert Jahre friedlich im deutschen Reich gelebt hatten und denen es nie eingefallen wäre dorthin zurückzukehren, von wo ihre Ahnen gekommen waren, wenn ihnen nicht als angeblichen Deutschen in den nach dem II. Weltkrieg neu erworbenen polnischen Gebieten die Zwangsaussiedlung gedroht hätte. Deren Gemeinschaft hält bis heute in Dreihacken zusammen, wo Gebetshäuser der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder stehen.

Aus den persönlichen Erkenntnissen gingen später auch einige Filmdokumente von David Vondracek hervor. Ein einstündiger Film behandelt das Thema von Familien, die ins ausgesiedelte Sudetenland kamen. Den Film Do zeme (ne)zaslibene [In das (un)gelobte Land] (2008) hat er in bitter-süßen Tönen abgefaßt, die die Kernbotschaft unterstreichen, dass viele von ihnen auch nach 60 Jahren nicht mit dem Ort verwachsen konnten und ständig in die frühere Heimat zurückkehren (in den Erinnerung, bei Ausflügen und Reisen).

Neben den erwähnten Themen befasste sich der heutige Laureat auch mit zwei Gruppen ethnischer Tschechen: aus dem so genannten Böhmischen Winkel im Glatzer Land und aus dem niederösterreichischen Weitraer Gebiet. Als angeblichen Deutschen drohte den Glatzer Tschechen die Vertreibung aus einem Gebiet, das 1945 an Polen gefallen war, und so sind sie in der Mehrzahl unfreiwillig freiwillig in das benachbarte Böhmen umgesiedelt. Anrührend ist die Aufnahme des Autors von der vermutlich letzten Tschechin aus dem Glatzer Land, die mit ihren 80 Jahren ein wunderbares Tschechisch des 19. Jahrhunderts spricht. Den Tschechen aus dem Weitraer Gebiet war es noch schlimmer ergangen. In der Zeit von 1920 bis 1950 sind sie drei Mal verfolgt und aus ihren Wohnstätten vertrieben worden, das empfinden sie bis heute als Unrecht.

David Vondracek filmte aber nicht nur "ethnische" oder "Vertreibungs"-Dokumente. Er weist auf die Gefahren hin, die von der äußersten Rechten und von der äußersten Linken ausgehen (Nespokojene namesti – Der unzufriedene Stadtplatz aus dem Jahr 1991), (Touha po poradku – Die Sehnsucht nach Ordnung aus dem Jahr 1992), auf das Schicksal eines tschechoslowakischen Legionärs, der 1945 wegen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht verurteilt wurde (Dvacate stoleti Aloise Vocaska – Das zwanzigste Jahrhundert des Alois Vocasek aus dem Jahr 1995). Immer wieder kehrt er zu den Tragödien des Nationalsozialismus zurück, des Krieges und der Nachkriegsvertreibung, er schuf auch ein Porträt des damaligen Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft (Navraty Franze Neubauera – Die mehrfache Rückkehr des Franz Neubauer, aus dem Jahr 1993). Er drehte eine Reportage über tschechische antinazistischen Widerstandskämpfer, die in Höhlen im Harz eingekerkert waren, wo sie Werkteile für die V1 und V2 montierten; einer seiner Filme befasst sich auch mit den jüdischen Zwillingsbrüdern Steiner aus Prag, die der Kriegsverbrecher Josef Mengele für seine „Versuche“ missbrauchte.

Unser Laureat widmet sich aber auch unpolitischen Themen. Zu erwähnen ist, dass ihm sein Schaffen und die Aufführungen seiner Filme das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen ermöglicht und auch, dass ihn die Gesellschaft Febio oftmals unterstützt hat.

Die thematische Vielfalt habe ich deshalb hervorgehoben, weil David Vondracek im letzten Jahr in der Tschechischen Republik vor allem mit zwei Filmen berühmt geworden ist. Die auf dem Gebiet der Tschechoslowakei geschehenen Nachkriegsverbrechen, deren Opfer Deutsche waren, gerieten nämlich nicht zufällig in das Werk von David Vondracek, sie sind ein natürlicher Bestandteil seines mehr als zwanzigjährigen filmischen Schaffens.

Ja, ich spreche nun über das Filmdokument Zabijeni po cesku – Töten auf tschechisch. Dieses Filmdokument ist das bisher suggestivste Dokument, das in der Tschechischen Republik über die nach Kriegsende stattgefundenen ethnischen Säuberungen, über die an der alteingesessenen deutschen Bevölkerung begangenen Morde, gedreht worden ist.

Zentrales Thema dieses Dokuments ist das Geschehen im nordböhmischen Postelberg, wo Soldaten der tschechoslowakischen Armee und Mitglieder der Revolutionsgarde einen Monat nach Kriegsende 763 deutsche Zivilisten erschossen haben. Erstmals sprachen hier vor der Kamera Zeugen aus Böhmen sowie aus Deutschland, Zeugen eines Massakers, das für immer verschwiegen werden sollte.

Der Autor hat auch das historische Filmmaterial von Jiri Chmelicek in den Film aufgenommen, des Vaters von Frau Helena Dvorackova, das mit weiteren Filmaufnahmen aus dem Familienleben, alle mit einer Sechzehnmilimeterkamera gefilmt, kontrastreich zusammengeschnitten wurde. Der Bauingenieur Jiri Chmelicek hat in der Protektoratszeit die verschiedensten Momente aus der Kindheit seiner Tochter, der kleinen Helena, auf Film gebannt. Die Aufnahmen von dem Massaker im Prager Stadtteil Dejvice umfassen nur einige Minuten, die Grundlage des Filmdokuments bilden Postelberg, Miröschau und vor allem das südböhmische, respektive niederösterreichische Weitraer Gebiet.

In Film spricht auch Frau Dvorackova, sie beschreibt die Momente in denen die Filmaufnahmen ihres Vaters entstanden. Die grausamen Bilder sind vom 9. Mai 1945, als Herr Chmelicek mit seiner Kamera aus dem Haus geht und den Ablauf der Ereignisse auf sehr plastische Weise einfängt. Er dreht die Ankunft der sowjetischen Soldaten und die sie willkommen heißenden Menschenmassen, so, wie wir Tschechoslowaken das aus den Wochenschauen kennen. Dann sehen wir aber, wie aus dem Kino in Prag-Borislavka Deutsche in Gruppen herausgeführt werden, ein Teil von ihnen stellt sich in einer Reihe auf – zweiundvierzig Männer und eine Frau – und sie werden dort erschossen. Nach der Sendung meldeten sich glaubwürdige Zeugen, die bestätigten, dass es alteingesessene Deutsche aus dem Stadtteil Hanspaulka und anderen Stadtteilen in Prag-Dejvice waren.

Während der Arbeit an dem Filmdokument hat David Vondracek zu vielen Fragen Tomas Stanek konsultiert, einen Historiker am Schlesischen Institut des Schlesischen Landesmuseums in Troppau, der bereits Ende der achtziger Jahre, als erster tschechischer Historiker, die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei bearbeitet hat.

Vorsichtshalber lässt der Regisseur Vondracek im Filmdokument die Frage offen, wer eigentlich mordete, auch wenn damals schon klar war, dass sich die Sowjets und die Revolutionsgardisten abwechselten; Zeitzeugen berichten, dass der sowjetische Offizier bereitwillig den Revolutionsgardisten seine Maschinenpistole überließ.

Nachdem das Tschechische Fernsehen den Film zur besten Sendezeit gezeigt hatte erhob sich in der Tschechischen Republik eine nationalistische Entrüstungswelle: Wie kann jemand die Tschechen so anschwärzen? Im Fernsehen, in der Uniform eines tschechischen Armeeoffiziers, behauptete, ohne rot zu werden, Eduard Stehlík, Historiker im Militärhistorischen Institut, einer Einrichtung des Verteidigungsministeriums, dass die Täter des Massenmorde sowjetische Soldaten waren. Wie dann Eduard Stehlik selbst einräumte, hat er die vernichtende Filmkritik geschrieben, bevor er den Film ganz gesehen hatte – die Aufnahmen von Herrn Chmelicek waren nämlich im Fernsehen öfter zu sehen, als der Film selbst. Das Militärhistorische Institut löschte zwar auf seinen Webseiten die nationalistische Kritik, aber zur Sache hat es sich danach nicht mehr geäußert.

Mir als aufgeklärtem Beobachter der Polemiken um den Film "Töten auf tschechisch" schien es aber, dass diejenigen, die die Wahrheit unterdrücken und sie gegebenenfalls nationalistisch "erklären" wollten, in der tschechischen Gesellschaft doch schon in der Minderheit sind. Davon zeugt auch der verhältnismäßig geringe Protest hinsichtlich der letzten Filmaufnahme von David Vondracek über den Massenmord an deutschen Bauern aus der Umgebung von Dobrenz auf der Böhmisch-Mährischen Höhe (Kreis Iglau), begangen von den örtlichen Revolutionsgardisten. Das Dokument fand bei der Öffentlichkeit große Beachtung. Allerdings warf dieser Film eine weitere Frage auf – wie war es möglich, dass man im Ort und in der Umgebung seit 60 Jahren von diesem Massenmord wusste und niemand darüber sprechen und schreiben wollte, geschweige denn zu ermitteln und zu bestrafen versuchte?

In Verbindung mit dem bisherigen "deutsch-tschechischen" dokumentarischen Schaffen von David Vondracek stellt sich hier die letzte Frage: Wie kommt es, dass sich die Mehrzahl der Tschechen um diese Schicksale und die damit verbundenen politischen, historischen und immer noch bestehenden juristischen Probleme nicht kümmert, nichts von ihnen wissen will? Und ebenso: Warum gibt es so wenige Deutsche, die bestrebt sind, zusammen mit den Tschechen, diese Verbrechen zu beschreiben und aufzuklären?

David Vondracek verletzt mit seinen Filmdokumenten diese Tabus. Deshalb bekommt er heute den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis, dafür gebührt ihm unser aller Dank, der Dank der Tschechen, der Deutschen, der Slowaken, der Österreicher und weiterer Europäer. Wichtig ist dies vor allem deshalb, damit sich das Grauen der nationalsozialistischen Diktatur und aller anderen Diktaturen, das Grauen autoritärer Politikstile und des Nationalismus nicht wiederholen.